Als ich vor etwa 15 Jahren zusammen mit unserem Sohn die Dachterrasse reinigte, entdeckten wir zwischen zwei Steinplatten eine kleine Pflanze. Sie war vielleicht drei bis vier Zentimeter gross. Anstatt sie auszureissen und mit dem Unkraut zu entsorgen, pflanzten wir sie in einen kleinen Topf um. Wir hatten noch keine Ahnung, um was für eine Art von Pflanze es sich handelte. Ein Jahr später fanden wir heraus: es war eine Pappel.
Die Pappel wäre heute, hätten wir sie nicht regelmässig etwas zurückgeschnitten, wohl dreimal so gross bzw. hoch wie unser Sohn, der nun bald 20 Jahre alt ist. In der kleinen Pflanze von damals war der Plan bereits angelegt, eine Pappel zu werden. Wir konnten den Plan nicht verändern, aber Bedingungen schaffen, in denen sich die Pappel in ihrem Topf trotz artfremden Verhältnissen gut entwickelte.
Weil die Pappel ihren Plan schon als Sprössling in sich trägt, wird sie kein Kirschbaum. Ich denke, das ist bei uns Menschen recht ähnlich. Natürlich folgen unsere Gene keinem autistischen Plan. Doch bestimmen die Gene sowie die Bedingungen, in denen wir in den ersten Jahren aufwachsen, einen grossen Teil dieses Plans. Du kannst dir also die Frage stellen: Was für ein Baum bin ich?
Was ist in mir angelegt, was sich zu einem grossen Baum entwickeln will? Bin ich ein Baum, der die Gruppe braucht, oder einer, der als Solitär im Feld steht?
Welche Wurzeln habe ich? Welche Herkunftsmuster und Lebensthemen haben mein Wachstum geformt – und formen es noch immer? Der Apfel fällt ja bekanntlich nicht weit vom Stamm.
Welche Früchte trage ich selbst als Baum? Was gibt es jetzt zu ernten? Und was in der nächsten Lebensphase?
Welche Rahmenbedingungen brauche ich, um meinem "artgerechten" Wachstum nicht im Wege zu stehen? Die Kühle und Stille der Berge, die Wärme und Betriebsamkeit des Flachlands?
Welche Äste kann ich herausschneiden, damit das Platz hat, was nach oben wachsen will?
Was ist anstrengend für mich, weil ich eine Pappel bin - und eben kein Kirschbaum?
Immer besser zu verstehen, was sich aus der „inneren Natur“ entwickeln will, ist wichtig, um Lebendigkeit und Lebensfreude zu erhalten. Zum Beispiel die Fragen:
Passt die Rolle der Führungskraft zu meiner "Natur"? Oder bin ich bei genauer Betrachtung am besten in der Rolle des Experten?
Wie viel Anteil "Familien- und Berufsleben" passt zu meiner "Natur"?
Wie viel Gesellschaft tut mir in meiner Freizeit gut? Und wie viel Stille brauche ich, um meiner inneren Natur gerecht zu werden?
Was wir durch das Experiment mit unserer Pappel auch erfahren haben: Ihre Wurzelkraft lässt sie auch unter artfremden Umständen wachsen. Das gilt auch für Menschen. Wir können uns an vieles anpassen und «artfremd» leben. Doch wenn wir zu viel Energie verlieren und über längere Zeit unzufrieden sind, kann das damit zusammenhängen, dass wir ein anderer Baum sein wollen als wir sind. Darum ist es gut, sich manchmal zu fragen: Lebe ich im Wesentlichen nach dem "inneren Plan", der in meiner Natur angelegt ist?
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